Aufbruch

 

Tomas erwachte.

Etwas hatte ihn gerufen. Er richtete sich auf und spähte in die Dunkelheit. Seine mehr als menschlichen Augen nahmen jede Einzelheit seines Zimmers auf, als dämmerte es bereits. Die Wohnung der Königin und ihres Gatten war klein; man hatte sie aus dem lebenden Stamm eines mächtigen Baumes herausgehauen.

Nichts erschien ungewöhnlich. Einen Augenblick lang hatte er Angst, daß es wieder diese verrückten Träume von gestern waren, dann wurde er vollends wach, und die Angst verflüchtigte sich. An diesem Ort, mehr als an jedem anderen, war er der Meister seiner Kräfte. Und dennoch besetzten alte Schrecken häufig unerwartet seinen Geist.

Tomas betrachtete seine Frau. Aglaranna schlief tief und fest. Dann war er auf den Beinen und ging hinüber zu Calis. Der nunmehr fast zwei Jahre alte Junge schlief in einem Alkoven neben dem Zimmer der Eltern. Der kleine Prinz von Elvandar schlummerte friedlich mit seligem Gesicht.

Wieder hörte er den Ruf. Und jetzt erkannte Tomas, wer ihn rief, doch das beruhigte ihn nicht, im Gegenteil, mit einem Mal spürte Tomas etwas Schicksalhaftes. Er ging hinüber zu seiner weißgoldenen Rüstung. Seit dem Ende des Spaltkriegs hatte er sie nur einmal getragen, als er Schwarze Kämpfer vernichtet hatte, die durch Elvandar zogen. Aber jetzt wurde ihm klar: Der Moment, die Rüstung wieder anzulegen, war gekommen.

Leise nahm er sie von ihrem Platz und trug sie nach draußen. Blüten erfüllten die Sommernacht mit Wohlgerüchen, und dazu mischten sich die Düfte aus den Bäckereien der Elben.

Unter dem grünen Dach von Elvandar legte Tomas die Rüstung an. Er zog das goldene Kettenhemd und die goldene Kappe über, dann den weißen Waffenrock mit dem goldenen Drachen. Er schnallte sich das goldene Schwert um, nahm den weißen Schild und stülpte sich zum Schluß den goldenen Helm über.

Einen Moment lang stand er da, in der vollen Rüstung von Ashen-Shugar, dem letzten der Valheru. Ein magisches Erbe verband den Drachenlord durch die Zeit hindurch mit ihm, und auf seltsame Weise war Tomas genausosehr ein Valheru wie ein Mensch. Eigentlich war er als Mensch aufgewachsen, sein Vater und seine Mutter hatten ihn in der Küche der Burg Crydee großgezogen, doch seine Kräfte gingen über menschliche Fähigkeiten weit hinaus. Die Rüstung war schon lange nicht mehr die Quelle dieser Kräfte; der Zauberer Macros der Schwarze hatte sie nur benutzt, um die alten Künste des Valheru auf Tomas übergehen zu lassen. Jetzt wohnten sie Tomas inne, wenngleich er sich noch immer jedesmal schwächer fühlte, wenn er die Rüstung ablegte.

Er schloß die Augen und benutzte jene lange Zeit nicht angewendete Magie, mit der er an den Ort reisen konnte, an dem der Rufer wartete.

Goldenes Licht umgab Tomas, und plötzlich flog er - schneller, als ein Auge ihm folgen konnte - zwischen den Bäumen des Elbenwaldes hindurch. Er schoß an den nichtsahnenden Wachen der Elben vorbei, bis er eine große Lichtung weit im Nordwesten des königlichen Hofes erreichte. Hier nahm er wieder seine körperliche Gestalt an und sah sich nach dem Rufer um. Zwischen den Bäumen trat ein Mann in einer schwarzen Robe hervor; sein Gesicht war Tomas wohlvertraut. Als der kleinere, der in seiner Kindheit sein Pflegebruder gewesen war, vor ihm stehenblieb, umarmten sich die beiden.

Tomas sagte: »Es ist ein ungewöhnliches Wiedersehen, Pug. Ich kenne deinen Ruf so gut, als wäre es deine Unterschrift, doch wozu die Magie? Warum bist du nicht einfach in unser Heim gekommen?«

»Wir müssen unter vier Augen miteinander sprechen. Ich war fort.«

»Davon hat mir Arutha letzten Sommer berichtet. Er erzählte mir, du hieltest dich in der Welt der Tsurani auf, um etwas über die Gründe für die finsteren Angriffe von Murmandamus zu erfahren.«

»Ich habe im vergangenen Jahr viele Dinge gelernt, Tomas.« Er führte ihn zu einem umgefallenen Baum und setzte sich auf den Stamm. »Ich bin mir nun ohne Zweifel sicher über das, was hinter Murmandamus steht - es ist genau das, was die Tsurani als den Feind bezeichnen, ein uraltes Wesen mit entsetzlichen Fähigkeiten. Dieses fürchterliche Geschöpf sucht Zugang zu unserer Welt und beherrscht die Moredhel und ihre Verbündeten - wie das im einzelnen vor sich geht, weiß ich leider noch nicht. Und es entzieht sich auch meiner Kenntnis, was eine Armee von Moredhel oder der Mord an Arutha durch die Assassinen diesem Wesen beim Eintritt in unseren Raum und unsere Zeit nützt.« Er ließ einen Moment noch einmal alles an seinen Augen vorbeiziehen. »Obwohl ich viel gelernt habe, verstehe ich viele Dinge immer noch nicht. Bei meinen Nachforschungen in der Bibliothek der Vereinigung hätte ich fast die Lösung gefunden.« Er sah seinen Jugendfreund eindringlich an. »In der Bibliothek habe ich leider nur einen kleinen Hinweis gefunden, doch der führte mich weit in den Norden von Kelewan, zu einem sagenumwobenen Ort in der Nähe des polaren Eises. Ich habe das letzte Jahr in Elvardein verbracht.«

Tomas blinzelte verwirrt. »Elvardein? Das bedeutet ... Zuflucht der Elben, so wie Elvandar Heim der Elben bedeutet. Wer ...?«

»Dort habe ich von den Eldar gelernt.«

»Von den Eldar?« Tomas erschien noch verwirrter. Erinnerungen an sein Leben als Ashen-Shugar stiegen in ihm auf. Die Eldar waren jene Elben, denen ihre Meister, die Drachenlords, am meisten vertraut hatten, jene Elben, die sogar Zugang zu den Büchern der Macht gehabt hatten, die von den Drachenlords in fremden Welten geraubt worden waren. Verglichen mit ihren Meistern waren sie schwach. Verglichen mit anderen Sterblichen auf Midkemia waren sie mächtige Magier. Während der Chaoskriege waren sie verschwunden, und man hatte bisher vermutet, sie seien an der Seite ihrer Meister untergegangen. »Und sie leben auf der Welt der Tsurani?«

»Kelewan ist nicht mehr die Welt der Tsurani als die Welt der Eldar. Beide Völker haben während der Chaoskriege dort eine Zuflucht gefunden.« Pug hielt inne und dachte nach. »Elvardein wurde als Wachposten der Eldar errichtet, im Hinblick auf solche Zeiten, wie sie jetzt eingetreten sind.

Es ist Elvandar sehr ähnlich, Tomas, doch es gibt feine Unterschiede.« Er erinnerte sich. »Als ich dort ankam, wurde ich herzlich willkommen geheißen. Die Eldar unterrichteten mich. Allerdings hatte ich so einen Unterricht vorher noch nie erlebt. Einer der Elben mit Namen Acaila schien für meine Ausbildung verantwortlich zu sein, obwohl ich viele Lehrer hatte. In dem ganzen Jahr unter dem Eis habe ich keine einzige Frage gestellt.« Er schlug die Augen nieder. »Es war ausgesprochen fremdartig. Von allen Menschen bist du wahrscheinlich der einzige, der verstehen kann, was ich meine.«

Tomas legte die Hand auf Pugs Schulter. »Ich glaube, ich verstehe. Menschen sind für solche Magie nicht geschaffen.« Er lächelte. »Und trotzdem müssen wir sie erlernen, nicht?«

Pug lächelte auf diese Bemerkung hin ebenfalls. »Das stimmt. Acaila und die anderen beschäftigten sich mit einem Zauberspruch, und ich saß einfach in ihrer Mitte und beobachtete sie.

Wochenlang habe ich überhaupt nicht begriffen, daß sie mir Unterricht erteilten. Eines Tages dann ... konnte ich mich einfügen. Ich lernte, mit ihnen gemeinsam Zauber zu wirken. Und da fing meine Ausbildung erst richtig an.« Pug lächelte. »Sie waren sehr gut vorbereitet. Sie wußten, ich würde kommen.«

Tomas riß die Augen auf. »Wie das?«

»Macros. Scheinbar hat er ihnen mitgeteilt, ein vielversprechender Schüler würde zu ihnen stoßen.«

»Das deutet auf einen Zusammenhang zwischen dem Krieg und dieser Begebenheit im letzten Jahr hin.«

»Ja.« Pug verfiel in Schweigen. Nach einer Weile fuhr er fort. »Ich habe drei Dinge gelernt. Zum ersten gibt es keine verschiedenen Wege der Magie. Alles ist Magie. Nur die persönlichen Grenzen des Anwenders bestimmen, welchem Weg er zu folgen hat. Zum zweiten, fange ich - allem zum Trotz, was ich gelernt habe - gerade erst an, das zu verstehen, was sie mir beigebracht haben. Sehr lange stellte ich keine Fragen, und die Eldar gaben mir keine Antworten.« Er schauderte. »Sie sind so anders als ... alles sonst. Ich weiß nicht, ob es die Einsamkeit ist, der fehlende Austausch mit anderen ihres Volkes oder was auch immer, doch Elvardein ist so fremdartig, daß ich mich in Elvandar so heimisch wie in den Wäldern von Crydee fühle.« Pug seufzte. »Zu manchen Zeiten war es geradezu niederschmetternd. Jeden Tag stand ich auf, wanderte in den Wäldern umher und wartete, bis sich mir eine Gelegenheit zum Lernen bot. Jetzt beherrsche ich mehr Magie als jeder andere auf dieser Welt - wo Macros gegangen ist -, doch ich weiß nicht, was uns bevorsteht. In gewisser Weise haben sie mich zu ihrem Werkzeug gemacht, ich weiß nur nicht, zu welchen Zweck.«

»Aber wahrscheinlich vermutest du doch irgend etwas?«

»Ja, nur werde ich diese Vermutungen mit niemandem teilen, auch nicht mit dir, solange ich mir nicht vollkommen sicher bin.

Ich habe viel gelernt, doch ich muß noch mehr lernen. Eins ist klar - und das ist das dritte, was ich in Elvardein erfahren habe -, beide Welten stehen der größten Bedrohung seit den Chaoskriegen gegenüber.« Pug erhob sich und sah Tomas in die Augen. »Wir müssen aufbrechen.«

»Aufbrechen? Wohin?«

»All das wird sich schon finden. Wir sind schlecht gerüstet, um in den Kampf einzugreifen. Wir wissen wenig, und es ist schwierig, mehr zu erfahren. Also müssen wir aufbrechen und nach neuem Wissen suchen. Und du mußt mit mir kommen. Sofort.«

»Wohin?«

»Dorthin, wo wir vielleicht etwas erfahren können, das uns einen Vorteil bringt: zum Orakel von Aal.«

Tomas studierte Pugs Gesicht. In den ganzen Jahren, die sie sich schon kannten, hatte er den jungen Magier nie so ernst gesehen. Leise fragte Tomas: »Zu anderen Welten?«

»Deshalb brauche ich dich. Deine Künste sind mir fremd. Ich kann einen Spalt nach Kelewan bewerkstelligen, doch keine Reise zu Welten, die ich nur aus jahrtausendealten Büchern kenne ... Nur wir beide zusammen haben eine Chance. Hilfst du mir?«

»Natürlich. Ich muß nur mit Aglaranna sprechen -«

»Nein.« Pug klang, als dulde er keinen Widerspruch. »Ich habe meine Gründe dafür. Vor allem einen: Hinter alldem vermute ich etwas weit Bedrohlicheres, als wir uns vorstellen können. Und wenn ich mit dieser Vermutung richtig liege, darf niemand außer uns beiden wissen, was wir unternehmen. Sollten wir das Wissen um unsere Suche mit einem dritten teilen, könnte das den Ruin von allem bedeuten. Diejenigen, die du beruhigen möchtest, würden dabei nur vernichtet. Es ist besser, wenn du sie eine Zeitlang im Ungewissen läßt.«

Tomas dachte über das nach, was Pug gesagt hatte. Eins wußte der Junge aus Crydee, der zum Valheru geworden war: In diesem Moment sprach er mit einem der wenigen Lebewesen dieses Universums, denen er voll und ganz vertrauen konnte. »Ich begrüße das zwar nicht, doch ich nehme deine Bedingung an. Wie wird es nun weitergehen?«

»Um den Kosmos oder sogar den Strom der Zeit zu durchqueren, brauchen wir ein Reittier, welches nur du beherrschen kannst.«

Tomas sah zur Seite und starrte in die Dunkelheit. »Es sind ... Zeitalter vergangen. Wie die früheren Diener des Valheru, von denen du gerade erzählt hast, sind auch die anderen während der Jahrhunderte eigenwilliger geworden und werden den Dienst womöglich verweigern.« Er dachte nach und erinnerte sich an Bilder lange vergangener Zeiten. »Dennoch werde ich es versuchen.«

Tomas stellte sich in die Mitte der Lichtung, Schloß die Augen und erhob die Arme weit über den Kopf. Pug sah ihm schweigend zu. Eine Weile lang bewegten sich die beiden Männer nicht. Dann wandte sich der Jüngere in Weiß und Gold an Pug. »Eine einzige Antwort, aus großer Entfernung. Doch sie kommt mit großer Geschwindigkeit näher. Bald.«

Die Zeit verstrich, die Sterne über ihren Köpfen folgten ihren Bahnen. Dann ließen sich aus der Ferne mächtige Flügelschläge vernehmen. Bald war das Geräusch lauter als das Rauschen des Windes, und vor den Sternen zeichnete sich ein gigantischer Schatten ab.

Auf der Lichtung landete eine mächtige Gestalt. Ungeachtet ihrer Größe kam sie dem Boden schnell und geschickt näher. Die Flügel waren zu jeder Seite mehr als dreißig Meter ausgebreitet, und der Koloß, größer als jede andere Kreatur auf Midkemia, setzte sanft auf. Das silberne Mondlicht tanzte funkelnd über die goldenen Schuppen, als sich der Große Drache auf der Erde niederließ. Ein Kopf, so groß wie ein Wagen, senkte sich zu den Menschen herab. Riesige rubinrote Augen starrten sie an. Und dann sprach die Kreatur.

»Wer ist es, der es wägt, mich zu rufen?«

Tomas antwortete: »Ich, der ich einst Ashen-Shugar war.«

Die Kreatur zeigte deutlich, was sie empfand: eine Mischung aus Verwirrung und Neugier. »Glaubet Ihr denn, Ihr könntet mir Befehle erteilen, wie Ihr einst meinen Ahnen Befehle erteilt habt? So nehmet denn zur Kenntnis, wir, die wir vom Geschlecht der Drachen sind, haben an Macht und Geschick gewonnen. So sollen wir niemals mehr einem Meister dienen. Tretet Ihr dem entgegen, und wollt Ihr diesen Satz anfechten?«

Tomas hob demütig bittend die Hände. »Wir suchen Verbündete, keine Diener. Ich bin Tomas, der mit Dolgan, dem Zwerg, bei Rhuagh bis zum letzten Augenblick die Wache hielt. Er nannte mich einen Freund, und er schenkte mir das, was mich zum Valheru machte.«

Der Drache dachte darüber nach. Dann antwortete er: »Das Lied wurde gesungen, gut und laut, Tomas, Freund von Rhuagh. Kaum ist in den alten Sagen die Rede von solch wunderbaren Dingen, die Rhuagh - der ein letztes Mal, als habe er die Jugend wiedergewonnen, durch die Himmel flog - voller Leidenschaft in seinem Todesgesang verkündete. Da sprach er von Euch und dem Zwergen Dolgan. Und alle jene, die sich Große Drachen nennen, lauschten seinen Worten und dankten ihm. Um dieser Großmut willen, werde ich mir Eure Nöte anhören.«

»Wir suchen nach Orten, die wir wegen der Grenzen von Zeit und Raum nicht betreten können. Auf deinem Rücken können wir diese Grenzen vielleicht durchbrechen.«

Der Drache wurde trotz Tomas' Versicherung mißtrauisch, weil einer von seinem Geschlecht wieder einen Valheru tragen sollte.

»Welchem Grund zufolge sucht Ihr jene Orte?«

Jetzt mischte sich Pug ein. »Eine große Gefahr besteht für diese Welt, eine Gefahr, die selbst für die vom Geschlecht der Drachen unermeßlich und unvorstellbar ist.«

»Seltsame Bewegungen hat es gegeben, dort oben im Norden«, sagte der Drachen. »Und ein böser Wind wehte dieser Nächte über das Land.« Er hielt inne und bedachte das, was gesagt worden war. »Nun denke ich also, Ihr und ich sollten einen Handel abschließen. Um solcher Zwecke willen, wie Ihr sie mir geschildert habt, werde ich mich willig zeigen, Euch und Euren Freund zu tragen. So höret denn meinen Namen: Ryath.« Der Drache legte den Kopf auf den Boden und Tomas kletterte gewandt hinauf und zeigte Pug, wo er hintreten konnte, damit es für die riesige Kreatur nicht unangenehm war. Als beide aufgestiegen waren, saßen sie in einer kleinen Vertiefung zwischen den Flügeln, dort wo der Hals in die Schulter überging.

»Wir stehen tief in deiner Schuld, Ryath«, sagte Tomas.

Der Drache schlug mächtig mit den Flügeln und stieg in den Himmel. Während sie rasch an Höhe gewannen, hielt Tomas' Magie ihn selbst und Pug fest auf Ryaths Rücken. Der Drache sagte: »Doch Schulden der Freundschaft sind keine Schulden. Denn ich bin einer der Nachkommen Rhuaghs; er war für mich, was Ihr in Eurer Welt als Vater zählen würdet, und ich war ihm eine Tochter. Wenn wir auch solcherlei Verwandtschaft nicht so hoch achten wie die Menschen, so haben diese Bande dennoch ihre Bedeutung. Und nun, Valheru, ist es an der Zeit, daß Ihr die Führung übernehmt.«

Im Besitz von Kräften, über die er seit Tausenden von Jahren nicht mehr verfügt hatte, machte sich Tomas zu einer Reise auf, die ihn zu jenen Orten führen sollte, an denen seine Brüder und Schwestern einst umhergezogen waren und Tod und Zerstörung zu ungezählten Welten gebracht hatten. Zum ersten Mal seit langer Zeit flog wieder ein Drachenlord zwischen den Welten.

Tomas lenkte die Tochter Rhuaghs mit den Gedanken. Jetzt, wo er sie brauchte, entdeckte er in sich Fähigkeiten, die er nie in seinem Leben angewendet hatte. Wieder fühlte er die Persönlichkeit von Ashen-Shugar in seinem Innern, doch im Vergleich mit dem alles verschlingenden Wahnsinn, der ihn überwältigt hatte, als ihn das Erbe des Valheru überkommen hatte, war das gar nichts.

Tomas erhielt die Illusion von Raum über sich, Pug und dem Drachen beinahe instinktiv aufrecht. Um sie herum erhellte der Glanz von Milliarden Sternen die Dunkelheit. Beide Männer wußten, sie befanden sich nicht in einem ›wirklichen Raum‹ - wie Pug es ausgedrückt hätte -, sondern in einem grauen Nichts, welches der Zauberer schon kennengelernt hatte, als er mit Macros den Spalt zwischen Kelewan und Midkemia geschlossen hatte. Doch dieses Grau hatte keine Substanz, es existierte einfach als solches zwischen den Faden des Gewebes, aus denen Raum und Zeit bestanden. Sie konnten hier altern, und dann nach Elvandar zurückkehren und nur einen Augenblick nach ihrer Abreise dort ankommen. In diesem Nicht-Raum gab es keine Zeit. Doch der Verstand des Menschen, egal wie begabt er sein mochte, hatte seine Grenzen, und Tomas wußte, daß Pug ein Mensch war, ungeachtet seiner enormen Kräfte; dies war keinesfalls der richtige Zeitpunkt, um seine Grenzen zu testen. Ryath, die Drachendame, stand der Illusion von Raum und Zeit eher gleichgültig gegenüber. Tomas und Pug spürten, wie sie immer wieder eine andere Richtung einschlug.

Die Fähigkeit des Drachen, im Nichts zu navigieren, interessierte Pug. In der Zeit, als Macros bei Rhuagh gelernt hatte, mußte der Zauberer einige Einsichten in die Fortbewegung zwischen verschiedene Welten gewonnen haben, vermutete Pug. Nach seiner Rückkehr nach Stardock würde er die Werke von Macros jedenfalls nach Berichten darüber durchsehen.

Mit einem lauten Knall traten sie wieder in den normalen Raum ein. Ryath schlug heftig mit den Flügeln. Sie flogen durch einen tosenden Himmel, der von Regenwolken dunkel war, über zerklüftete, uralte Gebirge hinweg. Die Luft roch bitter und metallisch, der stechende, kalte Wind trieb die Ausdünstungen von Verfaultem vor sich her. Ryath schickte Tomas einen Gedanken. Dieser Ort ist von fremder Natur. Gefallen tut er mir keineswegs.

Tomas antwortete laut, damit auch Pug ihn verstehen konnte: »Wir werden hier nicht verweilen. Und wir brauchen nichts zu fürchten.«

Furcht ist nicht, was ich meinte, Valheru. Es ist nur so, daß ich überhaupt nichts für derlei Orte übrig habe.

Pug zeigte an Tomas vorbei, der wandte sich um und folgte mit seinem Blick der Geste des Zauberers. Mit geistigen Befehlen teilte Tomas dem Drachen mit, er solle sich nach Pugs Instruktionen richten. Sie schossen durch eine alptraumhafte Szenerie von scharfkantigen Felsen und gezackten Bergspitzen. In der Ferne spieen Vulkane mächtige schwarze Rauchsäulen, die an der Unterseite von orangefarbenem Licht widerschienen. Über die Hänge dieser Berge wälzte sich glühendes Gestein. Schließlich erreichten sie die Stadt. Einst gewaltige Mauern lagen niedergerissen da, unter den Breschen hatte sich zerbröseltes Mauerwerk gesammelt. An manchen Stellen erhob sich noch ein stolzer Turm über der Ruinenlandschaft. Anzeichen von Leben fanden sich nicht. Über den Resten eines großen Platzes gingen sie in die Kurve und umrundeten das Zentrum der Stadt, wo sich einst Menschen aneinander gedrängt hatten. Jetzt hörte man im eisigen Wind nur noch die kräftigen Flügelschläge von Ryath.

»Was für ein Ort ist das?« fragte Tomas.

»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dies ist die Welt der Aal, das war sie zumindest in der Vergangenheit einmal. Sie ist sehr alt. Siehst du die Sonne?«

Tomas sah zu dem blendend weißen Punkt hinter den treibenden Wolken. »Sehr seltsam.«

»Sie ist nur alt. Früher schien sie wie unsere, strahlend hell und warm. Jetzt erlischt sie langsam.«

Alte Überlieferungen der Valheru, die lange in ihm geschlummert hatten, kamen Tomas in den Sinn. »Sie ist fast am Ende ihres Zyklus'. Ich weiß darüber Bescheid. Manchmal schwinden die Sonnen einfach dahin. Andere explodieren mit unwahrscheinlicher Macht. Ich frage mich, was aus dieser werden wird.«

»Ich weiß es auch nicht. Vielleicht weiß es das Orakel.« Pug zeigt auf eine entfernte Bergkette.

Sie flogen auf die Berge zu. Ryaths kraftvolle Flügel trugen sie rasch voran. Die Stadt war einst am Rand eines Hochplateaus errichtet und das umliegende Land beackert worden; das vermuteten sie zumindest. Doch nichts wies darauf hin, daß noch irgendwo Bauernhöfe standen, nur eine Art Aquädukt, welches einsam in der Mitte der weiten Ebene stand, erinnerte noch an die einstige Nutzung des Bodens - wie ein Denkmal für ein vor langer Zeit untergegangenes Volk. Ryath begann wieder zu steigen, als sie sich den Bergen näherten. Noch einmal ging es zwischen Bergspitzen hindurch, diese waren alt und von Wind und Sturm verwittert.

»Da«, sagte Pug. »Wir sind angekommen.«

Ryath folgte Tomas' gedachten Anweisungen und umrundete eine der Bergspitzen. Als sie um eine Felsgruppe auf der Südseite herumflogen, entdeckten sie eine ebene Stelle und dahinter eine große Höhle. Es gab keinen Platz, wo der Drache hätte landen können, also benutzte Tomas seine Valheru-Kräfte und ließ Pug und sich selbst schwebend vom Rücken des Drachen herunter. Ryath teilte Tomas durch seine Gedanken mit, sie wolle sich auf die Jagd begeben und würde auf seinen Ruf hin sofort zurückkehren. Tomas wünschte ihr Erfolg, ging aber insgeheim davon aus, daß der Drache mit leerem Magen wieder erscheinen würde.

Sie schwebten durch einen düsteren, von Sturmwolken verfinsterten Himmel. Man konnte kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht erkennen. Dann landeten sie auf dem Felsvorsprung vor der Höhle.

Sie sahen zu, wie Ryath davonflog. »Hier lauern keine Gefahren«, sagte Pug, »doch wir könnten noch zu schrecklicheren Orten reisen. Glaubst du, Ryath kennt wirklich keine Furcht?«

Tomas wandte sich Pug lächelnd zu. »Ich schätze sie durchaus so ein. In meinen Träumen von vergangenen Tagen habe ich mit ihren Vorfahren Kontakt aufgenommen, und dieser Drache ist im Vergleich zu ihnen das, was sie im Vergleich mit Fantus sind.«

»Und noch dazu hat sie sich freiwillig mit uns verbündet. Es wäre sicherlich nicht einfach gewesen, sie zu überreden.«

Thomas stimmte zu. »Ich hätte sie zweifellos zerstören können. Doch ihren Willen beugen? Ich glaube kaum. Die Zeiten, in denen die Valheru unangefochten geherrscht haben, sind seit langem vorbei.«

Pug betrachtete die fremde Landschaft unter dem Felsvorsprung. »Was für ein trauriger und öder Ort. In den Büchern, die in Elvardein aufbewahrt werden, habe ich eine Beschreibung dieser Welt gefunden. Einst schmückte sie sich mit riesigen Städten, die vielen Völkern eine Heimat boten; heute ist davon nichts mehr geblieben.«

Tomas fragte leise: »Und was wurde aus diesen Völkern?«

»Die Sonne ließ nach, das Klima änderte sich. Erdbeben, Hungersnöte, Kriege. Was auch immer, es brachte die vollständige Zerstörung.«

Sie wandten sich der Höhle zu. In genau diesem Moment erschien im Eingang eine von Kopf bis Fuß verhüllte Gestalt. Aus dem einen Ärmel des Gewandes kam ein dünner Arm hervor, dessen knorrige alte Hand einen Stab hielt. Der Mann - zumindest schien er einer zu sein - näherte sich ihnen, und als er vor ihnen stand, sprach er mit einer Stimme wie Espenlaub unter der Kapuze hervor. »Wer ist es, der das Orakel von Aal ausfindig gemacht hat?«

Pug antwortete: »Ich, Pug, genannt Milamber, Magier zweier Welten.«

»Und ich, Tomas, genannt Ashen-Shugar, der zweimal gelebt hat.«

Die Gestalt machte ihnen ein Zeichen, und Pug und Tomas betraten hinter ihr einen niedrigen, unbeleuchteten Gang. Mit einer verschnörkelten Geste ließ Pug um sie herum Licht erscheinen. Der Gang öffnete sich zu einer weiten Höhle.

Tomas blieb stehen. »Wir waren doch nur noch wenige Meter von der Spitze des Berges entfernt. Diese riesige Höhle kann doch gar nicht da hineinpassen ...«

Pug legte Tomas die Hand auf den Arm. »Wir sind eben woanders.«

Die Höhle wurde nun von einem schwachen Licht erhellt, das aus den Wänden und der Decke zu kommen schien, und Pug beendete seinen Zauber. In den entfernten Ecken der Höhle standen weitere Gestalten in langen Kapuzenmänteln, doch keine kam näher.

Der Mann, der sie auf dem Felsvorsprung begrüßt hatte, ging an ihnen vorbei, und sie folgten ihm. Pug sagte: »Wie sollen wir Euch nennen?«

Der Mann sagte: »Wie immer es Euch gefallt. Wir kennen hier keine Namen, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Wir sind einfach nur die, die dem Orakel dienen.« Er führte sie zu einem großen Felsvorsprung, auf dem eine seltsame Gestalt ruhte. Es war eine junge Frau, oder, genauer gesagt, ein Mädchen um die dreizehn oder vierzehn, vielleicht ein bißchen älter; man konnte es schwer schätzen. Es war nackt und über und über mit Schmutz, Kratzern und den eigenen Exkrementen bedeckt. Das lange braune Haar war verfilzt. Das Mädchen sah sie mit großen Augen an, als sie näher kamen, und drückte sich mit dem Rücken an die Felsen und schrie vor Angst. Offensichtlich war es verrückt, dachten beide Männer. Es hörte nicht auf zu schreien und kauerte sich zusammen, dann schließlich brach es in ein wahnsinniges Lachen aus. Plötzlich warf es den Männern einen abschätzenden Blick zu und begann, sich die Haare zu ordnen, indem es sich mit den Fingern wie mit einem Kamm durch die Haare fuhr. Scheinbar machte es sich auf einmal Gedanken um sein Äußeres.

Ohne ein Wort deutete der Mann mit dem Stab auf das Mädchen. Tomas fragte: »Das ist also das Orakel?«

Der vermummte Mann nickte. »Das ist das gegenwärtige Orakel. Es wird bis zu seinem Tode dienen, dann wird ein anderes kommen, so wie dieses kam, als das vorherige Orakel starb. So ist es immer gewesen, und so soll es auch immer sein.«

»Wie überlebt ihr in dieser toten Welt?«

»Wir handeln. Unser Volk ist verschwunden, doch andere, solche wie Ihr, suchen uns auf. Wir kommen durch.« Er deutete auf das am Boden kauernde Mädchen. »Es ist unser ganzer Reichtum. Fragt, was Ihr wollt.«

»Und der Preis?« erkundigte sich Pug.

Der vermummte Mann wiederholte, was er gesagt hatte. »Fragt, was Ihr wollt? Das Orakel antwortet, wenn es ihm gefallt, falls es sich überhaupt dazu entscheidet. Es wird Euch auch den Preis nennen. Vielleicht verlangt es Süßigkeiten, vielleicht Früchte, oder vielleicht will es Euer noch schlagendes Herz verspeisen. Vielleicht verlangt es Flitterzeug, mit dem es spielen kann.« Er deutete auf eine Sammlung seltsamer Gegenstände in der Ecke. »Es könnte hundert Schafe von Euch verlangen, oder einen Zentner Weizen - oder Gold. Ihr müßt selbst entscheiden, ob das Wissen, nach dem Ihr fragt, den Preis wert ist. Manchmal gibt es die Antworten auch umsonst. Doch meistens beantwortet es die Fragen gar nicht, egal, was man ihm bietet. Es ist sehr launisch.«

Pug stieg zu dem auf dem Felsvorsprung kauernden Mädchen hinauf. Es starrte ihn eine Weile an, dann lächelte es und spielte abwesend mit den strähnigen Haaren. Pug sagte: »Wir möchten etwas über die Zukunft wissen.«

Das Mädchen kniff die Augen zusammen, in denen nun plötzlich kein Wahnsinn mehr stand. Es war so, als wäre von einem Moment zum nächsten eine andere Person in das Mädchen hineingefahren. Ruhig antwortete es: »Um das zu erfahren, werdet Ihr mir also meinen Preis zahlen?«

»Nennt Euren Preis.«

»Rettet mich.«

Tomas warf einen Blick auf ihren Führer. Von tief unter der Kapuze ertönte seine trockene Stimme. »Wir verstehen nicht wirklich, was es damit sagen will. Das Mädchen ist nur in seinem eigenen Geist gefangen. Es ist der Wahnsinn, der ihm die Gabe des Weissagens gewährt. Befreit Ihr es von seinem Wahnsinn, wird es nicht länger das Orakel sein. Also muß in den Worten noch eine andere Bedeutung liegen.«

Pug fragte: »Wovon befreien?«

Das Mädchen lachte, dann fügte es ruhig hinzu: »Wenn Ihr das nicht versteht, könnt Ihr mich nicht befreien.«

Die verhüllte Gestalt in dem Kapuzenmantel zuckte mit den Schultern. Pug dachte nach. Dann sagte er: »Ich glaube, ich verstehe.« Er streckte die Arme aus und nahm den Kopf des Mädchens in die Hände. Es versteifte sich, als wollte es schreien, doch Pug sandte ihm beruhigende Gedanken. Was er jetzt versuchen wollte, war seit Urzeiten die Domäne der Geistlichen, doch seine Zeit bei den Eldar in Elvardein hatte ihn eins gelehrt: Die einzigen wirklichen Grenzen der Magie bestanden in den Grenzen des Anwenders.

Pug schloß die Augen und drang in den Wahnsinn ein.

 

Pug stand in einem Labyrinth aus unerträglichen Farben und Formen, in dem sich die Wände ständig verschoben. Der Horizont veränderte sich mit jedem Schritt, es gab keine feste Perspektive. Er sah auf seine Hände und beobachtete, wie sie plötzlich wuchsen, bis sie die Größe von Melonen hatten; dann schrumpften sie genauso schnell wieder, bis sie kleiner als die Hände eines Kindes waren. Er sah auf. Die Wände des Labyrinths bewegten sich scheinbar wahllos vor und zurück, wobei ihre Farben und Muster wenigstens ein dutzendmal wechselten. Selbst der Boden unter seinen Füßen veränderte sich: Was im einen Moment noch ein rot-weißes Schachbrettmuster war, stellte sich im nächsten als Muster aus schwarzen und grauen Linien dar, um sich dann wieder in blaue und grüne Punkte auf rotem Grund aufzulösen. Blendende und blitzende Lichter ließen Pug abwechselnd schwarz und weiß vor Augen werden.

Pug versuchte, seine Wahrnehmung wieder in den Griff zu bekommen. Er wußte, er war immer noch in der Höhle, und diese Bilder drückten nur sein Bedürfnis aus, den Wahnsinn des Mädchens körperlich faßbar zu machen. Als erstes stabilisierte er sich selbst, damit das Wachsen und Schrumpfen seiner Gliedmaßen ein Ende hatte. Voreilig an irgendeiner Stelle einzugreifen, könnte den angeknacksten Verstand des Mädchens endgültig zerstören, und er hatte keine Ahnung, was das dann für ihn bedeuten würde, da er schließlich Kontakt mit diesem Verstand hielt. Womöglich würde er dann in ihrem Wahnsinn gefangen bleiben, und das war keine angenehme Aussicht. Im vergangenen Jahr hatte Pug sehr viel darüber gelernt, wie er seine Künste anwenden konnte, aber er hatte auch ihre Grenzen kennengelernt. Ihm war klar, alles, was er hier tat, beinhaltete ein großes Risiko.

Als nächstes stabilisierte er den Bereich um sich herum und brachte die hin und her wandernden Wände und die blendenden Lichter zur Ruhe. Da jede Richtung genausogut war wie eine andere, ging er einfach los. Das Gehen war ebenfalls eine Illusion, das wußte er, doch diese Illusion konnte er ausnützen, um den Sitz ihres Bewußtseins zu erreichen. Wie für die Lösung jedes anderen Problems brauchte er auch hier einen Bezugsrahmen, und den konnte ihm nur das Mädchen selbst liefern. Pug konnte lediglich auf das reagieren, was ihm ihr wahnsinniger Verstand vorspiegelte.

Abrupt tauchte er in eine Dunkelheit, und eine Stille, nur mit der des Todes vergleichbar, umgab ihn. Schließlich drang ein seltsames Geräusch an sein Ohr. Einen Moment später folgte ein zweites, aus einer anderen Richtung. Dann bewegte sich die Luft. Immer häufiger spürte er jetzt in der Dunkelheit Luftbewegungen und hörte seltsame Geräusche. Zum Schluß war die Schwärze von an- und abschwellendem Lärm und stinkenden Gerüchen erfüllt. Ein seltsamer Wind blies ihm ins Gesicht, ungewöhnliche, leichte Gegenstände berührten ihn und waren wieder verschwunden, ehe er noch danach greifen konnte. Er machte Licht und fand sich in einer großen Höhle wieder, die jener, in der Tomas und er gerade wirklich standen, sehr ähnelte. Nichts rührte sich. Er rief in die Illusion der Höhle hinein. Keine Antwort.

Das Bild erzitterte und verwandelte sich, und er stand auf einem wunderschönen Rasen, der von zierlichen Bäumen umsäumt war - viel zu vollkommen, um wirklich zu sein. Die Bäume bildeten zwei Linien, die wie eine Allee zu einem prächtigen Palast führten, der aus weißem Marmor gebaut und mit Gold und Türkisen, Bernstein und Jade, Opalen und Chalzedon verziert war. Dieser Ort war atemberaubend schön, und Pug blieb in stiller Verzückung stehen. Der Anblick rief das Gefühl wach, dieser Ort sei der vollkommenste im ganzen Universum, ein Heiligtum, in das keine Ärgernisse eindrangen und wo man in ungestörter Zufriedenheit das Ende der Unendlichkeit abwarten konnte.

Wieder verwandelte sich das Bild, und er stand mitten in einem Saal des Palastes. Vom Marmorboden bis hin zu den Ebenholzsäulen war es der verschwenderischste Reichtum, den er je gesehen hatte. Dieser Anblick übertraf sogar den Palast des Kriegsherrn in Kentosani. Die Decke bestand aus geschliffenem Quarz, welcher das Sonnenlicht rötlich glühend zurückwarf, und die Wände waren mit schweren Teppichen verhängt, in die Gold- und Silberfaden eingewoben waren. Alle Türen waren aus Ebenholz und mit Verzierungen aus Elfenbein und Beschlägen aus Edelsteinen geschmückt, und wohin Pug auch blickte, überall entdeckte er Gold. Im Zentrum dieses Prunks erleuchtete ein weißer Lichtkreis ein Podest, auf dem zwei Gestalten standen: eine Frau und ein Mädchen.

Er schritt auf sie zu. Plötzlich wuchsen vor ihm aus dem Marmor Krieger wie Pflanzen aus der Erde, jeder eine mächtige Kreatur von schrecklichem Aussehen. Einer erinnerte an einen zum Menschen gewordenen Keiler, ein anderer an eine riesige Heuschrecke. Ein dritter trug den Kopf eines Löwen auf dem Körper eines Mannes. Ein vierter hatte ein Gesicht wie ein Elefant. Jeder von ihnen trug Waffen und Rüstung aus edlen Metallen, mit Juwelen geschmückt, und jeder brüllte furchteinflößend. Pug blieb still stehen.

Die Krieger griffen ihn an, doch Pug bewegte sich nicht. Die alptraumhaften Kreaturen schlugen auf ihn ein, doch ihre Waffen fuhren durch Pug hindurch, und die Krieger lösten sich in Luft auf. Als sie verschwunden waren, schritt Pug auf das Podest zu, auf dem die beiden Gestalten standen.

Das Podest begann sich zu bewegen, als hätte es kleine Räder oder Beine, und es wurde zunehmend schneller. Pug ging darauf zu, willens, es einzuholen. Die Umgebung flog verwischt an ihm vorbei; die Illusion des Palastes mußte Meilen groß sein. Pug wußte, er hätte das Podest mit den beiden Gestalten zum Stillstand bringen können, doch damit tat er dem Mädchen vielleicht etwas zuleide. Jeder offensichtliche Akt der Gewalt konnte dauerhaften Schaden anrichten, selbst wenn er den beiden Flüchtenden nur befahl, anzuhalten.

Das Podest bewegte sich auf einem schwankenden, wankenden Kurs durch die Zimmer, und Pug mußte sich immer wieder ducken, um Gegenständen auszuweichen, die ihm in den Weg wirbelten. Er hätte diese Gegenstände auch zerstören können, doch der Effekt wäre genauso gefährlich gewesen, als hätte er die beiden auf dem Podium zum Halten gezwungen. Nein, dachte er, wenn man in die Realität eines anderen eindringt, muß man sich auch an deren Regeln halten.

Dann kam das Podest zum Stehen, und Pug holte die beiden ein. Die Frau stand still da und betrachtete den Magier eingehend, während das Mädchen zu ihren Füßen saß. Im Gegensatz zu seinem wirklichen Aussehen war das Mädchen nun wunderschön, war in weiche, durchscheinende Seide gekleidet, und sein Haar war mit Nadeln aus Gold und Silber hochgesteckt, von denen jede ein Juwel trug. War es bei dem vor Dreck starrenden Mädchen in der Höhle kaum abzuschätzen gewesen, wie es unter dem Schmutz aussah, hatte er jetzt eine erstaunlich schöne junge Frau vor sich.

Dann stand das Mädchen auf und wuchs vor seinen Augen zu gigantischen Ausmaßen heran. Riesige behaarte Arme sprossen aus den weichen Schultern, der Kopf wurde zu dem eines wütenden Adlers. Blitze schossen aus den rubinroten Augen, und mächtige Krallen schlugen auf Pug nieder.

Er rührte sich nicht. Die Krallen fuhren wirkungslos durch ihn hindurch, weil er sich dieser Realität verweigerte. Plötzlich verschwand das Ungeheuer, und vor ihm lag das Mädchen, so wie er es in der Höhle kennengelernt hatte: nackt, verfilzt, wahnsinnig.

Pug sah die Frau an und sagte: »Ihr seid das Orakel.«

»Das bin ich.« Sie wirkte fürstlich, stolz und fremdartig. Doch sie sah aus wie ein Mensch. Pug hielt sie für einen Teil der Illusion. In Wirklichkeit würde sie etwas anderes sein ... oder gewesen sein, als sie noch lebte. Langsam begriff Pug.

»Wenn ich sie befreie, was ist dann mit Euch?«

»Ich muß eine andere finden, und zwar schnell, oder ich werde aufhören zu existieren. So ist es immer gewesen, und so soll es immer sein.«

»So wird eine andere dieser Krankheit erliegen.«

»So ist es immer gewesen.«

»Und wenn ich sie befreie, was wird dann aus ihr?«

»Sie wird die sein, als die sie hierhergebracht wurde. Sie ist noch jung und wird wieder genesen.«

»Werdet Ihr mir Widerstand leisten?«

»Ihr wißt, das kann ich nicht. Ihr seht nur Illusionen. Ihr wißt, die Ungeheuer und die Schätze sind nur Wesen der Vorstellung. Doch ehe Ihr sie von mir befreit, müßt Ihr mir zuhören, Magier.

Im Ursprung der Zeit, als das Universum seine Vielfältigkeit ausbildete, wurden wir geboren, wir, die von Aal. Als dein Gefährte, der Valheru, und sein Geschlecht die Himmel regierten, waren wir schon so alt und weise, wie es sich die Drachenlords kaum vorstellen konnten. Ich bin die letzte weibliche Angehörige meiner Art, obwohl das eher eine Umschreibung ist. Die in der Höhle sind gewissermaßen die Männer. Wir kämpfen darum, unser großes Erbe zu bewahren, die Kraft des Orakels, weil wir die Diener der Wahrheit und die Mägde des Wissens sind. Dieses Erbe wurde vor vielen Zeitaltern begründet, und ich konnte meine Existenz nur im Geist von anderen fortsetzen, doch diese müssen dafür den hohen Preis des Wahnsinns bezahlen. So ist es ein notwendiges Übel, daß Mitglieder niedrigerer Lebensformen dazu überredet werden, der Kraft von Aal den Fortbestand zu sichern. Wir wünschten, es gäbe einen anderen Weg, doch dem ist nicht so, denn ich kann einzig in einem lebenden Verstand existieren. Ihr mögt das Mädchen nehmen, doch wißt, schon bald werde ich den nächsten Geist brauchen, um darin zu wohnen. Sie ist ein Nichts, einfach ein Kind unbekannter Herkunft. In ihrer Welt hätte sie sich bestenfalls als Bäuerin schinden dürfen, schlimmstenfalls als Hure den Männern zu deren Vergnügen dienstbar sein müssen. In ihrer Vorstellung habe ich für sie Reiche geschaffen, von denen selbst die mächtigsten Könige nicht zu träumen wagen. Was könnt ihr dem Mädchen statt dessen bieten?«

»Sein eigenes Schicksal. Doch ich glaube, es war von einer anderen Rettung die Rede: einer für euch beide.«

»Ihr seid sehr aufmerksam, Magier. Der Stern, um den diese Welt kreist, steht kurz vor seinem Untergang. Das ist auch der Grund für die Verwüstung dieses Planeten. So erleben wir in diesem Zeitalter wieder Ausbrüche von Vulkanen. So etwas hat es hier seit Äonen nicht mehr gegeben. Innerhalb einer kurzen Spanne von Jahren wird diese Welt ihr infernalisches Ende finden. Dies ist bereits die dritte Welt, die den Aal als Heim gedient hat. Nun jedoch ist unser Volk in den Zeiten dahingegangen, und wir haben nicht die Mittel, mit denen wir eine vierte Welt finden könnten. Wenn wir Eure Fragen beantworten sollen, müßt Ihr uns zuerst mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, Euch zu einer anderen Welt zu bringen. Es gibt kaum mehr ein Dutzend von Euch. Ich bin einverstanden. Vielleicht entdecken wir sogar - einen Weg, der es nicht mehr notwendig macht, den Verstand eines dritten zu verwirren.« Er deutete mit dem Kopf auf das am Boden kauernde Mädchen.

»Das wäre allerdings wünschenswert, aber wir haben dafür bisher noch keine Möglichkeit gefunden. Trotzdem, wenn Ihr einen neuen Zufluchtsort für uns findet, werde ich Eure Fragen beantworten. Somit sind wir uns also einig?«

»Ja. Und ich schlage Euch folgendes vor. In meiner Welt kann ich für Euch und die Eurigen einen sicheren Ort finden. Ich gehöre durch Adoption zum Geschlecht unseres Königs, und er wird meinem Ansuchen wohlwollend gegenüberstehen. Aber Ihr müßt wissen, diese Welt wird von großer Gefahr bedroht und deshalb geht Ihr ein Risiko ein.«

»Das ist unannehmbar.«

»Dann wird unser Handel nichtig, und alles wird untergehen. Denn ich werde mit meinen Unternehmungen scheitern, und Ihr werdet Euch in eine Wolke brennender Gase auflösen.«

Die Frau schien die Sache noch einmal zu überdenken. Nach langem Schweigen sagte sie schließlich: »Ich werde unseren Handel etwas abwandeln. So rüste ich Euch denn nun mit der Kraft des Orakels aus, und im Gegenzug werdet Ihr uns eine sichere Zuflucht gewähren, wenn Ihr Eure Suche beendet habt.«

»Suche?«

»Ich habe in die Zukunft gesehen, und als wir unsere Abmachung ausgehandelt haben, lösten sich die Stränge des Möglichen voneinander, und das Wahrscheinlichste enthüllte sich mir. Selbst jetzt, während wir uns unterhalten, sehe ich, was Euch erwartet: ein steiniger Weg voller Gefahren.« Sie stand einen Moment lang still da, dann sagte sie leise. »Jetzt kann ich erkennen, was auf Euch zukommt. Ich teile Euren Standpunkt; Ihr könnt nicht anders handeln.«

Pug zuckte mit den Schultern. »Einverstanden. Wenn sich die Dinge zu unseren Gunsten entwickelt haben, werden wir Euch an einen sicheren Platz bringen.«

»Kehrt nun in die Höhle zurück.«

Pug öffnete die Augen. Tomas und die Diener des Orakels standen noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Er fragte Tomas: »Wir lange habe ich hier so gestanden?«

»Einige Augenblicke, nicht länger.«

Pug trat von dem Mädchen zurück. Es schlug die Augen auf und sprach mit klarer Stimme, die vom Wahnsinn unberührt war, doch ein wenig nach der fremden Frau klang. »Höret! Die Dunkelheit sammelt sich und breitet sich aus, sie kommt von dort, wohin man sie einst verbannt hat, sucht zu gewinnen, was sie verloren hat, um all die zu vernichten, die Euch lieb und teuer sind, sie alle zu verdammen und in Schrecken zu versetzen. Geht und findet den einen, der alles weiß, den einen, der als erster die Wahrheit verstanden hat. Nur er kann Euch durch die letzte Schlacht führen, nur er.«

Tomas und Pug sahen sich an, und selbst Tomas wußte bereits die Antwort, als Pug fragte: »Wen soll ich suchen?«

Die Augen des Mädchens brannten sich in seine Seele. Ruhig sagte es: »Ihr müßt Macros den Schwarzen finden.«